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Text
Das
Ideal der Freundschaft
Seneca
grüßt seinen (Freund) Lucius.
In
dem Brief, den mir dein Freund überbrachte, warnst du mich, dass ich
alles diesem Freund anvertraue, da nicht einmal du selbst dies zu tun
gewohnt bist. Ich frage dich:
Wurde
dieser von dir ´Freund´ gennant so, wie wir diejenigen, deren Namen
wir nicht kennen, ´Herren´ nennen ? Wenn dem so ist, nennst du
diesen einen Freund, hälst ihn aber nicht dafür. Dann tust du
richtig daran, wenn du dich davor hütest, dass du ihm alles
anvertraust.
Wenn
du ihn freilich für einen echte Freund hältst, obwohl du ihm
weniger glaubst als dir, kennst du die Kraft wahrer Freundschaft
nicht genug. Einem echten Freund kannst du dich anvertrauen, ihm alle
deine Taten gestehen und ihm alles sagen, was du meinst.
Deshalb
hüte dich davor, dass du vorschnell jemanden für einen echten
Freund hälst. Gesetzt den Fall, dass dir irgendeiner sehr angenehm
ist, überlege dennoch lange Zeit lange Zeit, ob du ihn in den Kreis
deiner Freunde aufnehmen sollst. Sobald du beschlossen hast, dass er
ein echter Freund wird, lasse jenen mit ganzem Herzen zu und rede
uneingeschränt offen mit jenem über alle Dinge! Was gibt es für
einen Grund, weshalb du irgendwelche Worte vor einem echten Freund
verschweigst ? In der Freundschaft muss man vertrauen, vor der
Freundschaft beurteilen.
Wenn
du zu einem echten Freund Vertrauen hast, wird auch er zu dir
Vertrauen haben. Vermute nicht, dass du von einem echten Freund
getäuscht wirst. Denn was ist schlechter als diese Vermutung ?
Im
Übringen erzähle die einen das, was nur echte Freunden anvertraut
werden darf, allen, denen sie begegnen. Andere wiederum fürchten
sogar Mitwisserschaft der Liebsten; diese würden sie nicht einmal
sich selbst vertrauen, auch wenn sie es könnten. Beides ist ein
Fehler, sowohl allen zu vertrauen als auch keinem zu vertrauen. Lebe
wohl!