Sonntag, 24. Januar 2016

57 Text Das Ideal der Freundschaft

57 Text

Das Ideal der Freundschaft

Seneca grüßt seinen (Freund) Lucius.
In dem Brief, den mir dein Freund überbrachte, warnst du mich, dass ich alles diesem Freund anvertraue, da nicht einmal du selbst dies zu tun gewohnt bist. Ich frage dich:

Wurde dieser von dir ´Freund´ gennant so, wie wir diejenigen, deren Namen wir nicht kennen, ´Herren´ nennen ? Wenn dem so ist, nennst du diesen einen Freund, hälst ihn aber nicht dafür. Dann tust du richtig daran, wenn du dich davor hütest, dass du ihm alles anvertraust.

Wenn du ihn freilich für einen echte Freund hältst, obwohl du ihm weniger glaubst als dir, kennst du die Kraft wahrer Freundschaft nicht genug. Einem echten Freund kannst du dich anvertrauen, ihm alle deine Taten gestehen und ihm alles sagen, was du meinst.

Deshalb hüte dich davor, dass du vorschnell jemanden für einen echten Freund hälst. Gesetzt den Fall, dass dir irgendeiner sehr angenehm ist, überlege dennoch lange Zeit lange Zeit, ob du ihn in den Kreis deiner Freunde aufnehmen sollst. Sobald du beschlossen hast, dass er ein echter Freund wird, lasse jenen mit ganzem Herzen zu und rede uneingeschränt offen mit jenem über alle Dinge! Was gibt es für einen Grund, weshalb du irgendwelche Worte vor einem echten Freund verschweigst ? In der Freundschaft muss man vertrauen, vor der Freundschaft beurteilen.

Wenn du zu einem echten Freund Vertrauen hast, wird auch er zu dir Vertrauen haben. Vermute nicht, dass du von einem echten Freund getäuscht wirst. Denn was ist schlechter als diese Vermutung ?


Im Übringen erzähle die einen das, was nur echte Freunden anvertraut werden darf, allen, denen sie begegnen. Andere wiederum fürchten sogar Mitwisserschaft der Liebsten; diese würden sie nicht einmal sich selbst vertrauen, auch wenn sie es könnten. Beides ist ein Fehler, sowohl allen zu vertrauen als auch keinem zu vertrauen. Lebe wohl!

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